Der Wert einer Reise

Der Wert einer Reise

… bemisst sich aus den Erinnerungen (ja, Geschäftsreisen müssen leider draußen bleiben …).

Erinnerungen entfalten sich in Schichten, isso.
Wenn man sich das wie bei einer Zwiebel vorstellt (es soll Leute geben, die noch nie eine Zwiebel geschält haben … ), dann wäre die äußerste Schicht diejenige Erinnerung, die im Vordergrund steht, die am schnellsten verfügbar ist bzw die am lautesten schreit. Und es wäre die, die den wenigsten Gehalt an Emotionen aufweist, weil sie durch ihre Nähe zu  oxidierenden Umwelteinflüssen schon ein wenig Substanz verloren hat.

Zusammen mit dem „Boah ey Effekt“, der plakative Erinnerungen ja eh schon vorne auf die Erinnerungsliste schreibt, multipliziert sich das dann dahingehend, dass die etwas zarteren Schichten der ohnehin nicht ganz so spektakulären Erinnerungen  von unserem Bewusstsein relativ unbehelligt bleiben.

Für manche stellt dies überhaupt kein Problem dar, weil sie u.U. gar keine leisen oder zarten Erinnerungen gesammelt haben. Die wissen nicht, oder es stört sie nicht, dass unter der Oberfläche Liegendes sich gar nicht hoch traut, wenn man oben zu viel Bohei macht. Oder dass man gar nicht ahnen kann (um mal eine weitere Analogie zu bemühen …) wie tief das Wasser sein könnte, wenn man nur oberflächliche Reflektionen beobachtet.

Bevor ich auf noch dünnerem Erinnerungs-Philosophie-Eis einbreche:
Wir befinden uns im südöstlichen Iran nahe der pakistanischen Grenze, in Bam. Die junge Dame auf dem Foto ist eine Archäologiestudentin, die einen gerade stattfindenden Kongress besucht, der in einem der kürzlich renovierten Gebäude in der zum Weltkulturerbe gehörenden Altstadt abgehalten wird. (BTW: Bam, der moderne Teil wie auch die unbewohnte Altstadt, wird ein paar Jahre später durch ein massives Erdbeben zu über 70% zerstört werden).
StudentInnen und Reisende haben oft ein eingeschränktes Budget und steigen nicht selten in den gleichen Herbergen ab. Was für ein glücklicher Zufall!

So weit die äußere Schicht der Erinnerung.

Wir bleiben ein paar Tage in Bam, es gibt einiges zu sehen, die Ruinen sind beeindruckend. Irgendwas an einer der Enfields muss repariert werden, und keiner der hiesigen Mechaniker hat jemals zuvor eine Enfield gesehen. Wenn man nun bei irgendeiner Werkstatt vorfährt, wird das Motorrad eingehend begutachtet und bestaunt (im Iran gibt es fast nur kleine Mopeds), Tee gebracht, nach dem Woher und Wohin gefragt, bis dann nach einer halben Stunde das Offensichtliche ausgesprochen wird: sorry.
Ich bin froh, dass wir ein wenig aufgehalten werden, denn ich genieße die Gesellschaft der im Hotel abgestiegenen Studentinnen und warte schon immer am Spätnachmittag ungeduldig darauf, dass sie „nach Hause kommen“.
Man sitzt dann immer zwanglos im Innenhof des Hotels, abgeschirmt durch hohe Mauern. Die großen Eingangstore werden immer sofort abgesperrt, wenn ein Gast hereingekommen ist oder das Hotel verlassen hat.
Zwanglos heißt: nachdem die Studentinnen in vollem Ornat, Kopftücher und lange Gewänder in schwarz, das Hotel betreten, verschwinden sie kurz in ihren Zimmern um dann in Jeans und ohne Kopftuch im Garten mit uns zu plaudern. Es ist jedesmal ein kleines Wunder, wie sich wallende Pinguine in attraktive Frauen verwandeln.
Manchmal verwandeln sie sich rasch zurück wenn es am Tor klopft. Es könnte ja nicht nur jemand Eintritt verlangen, der sich am Anblick „unkeuscher“ Frauen stört, es könnten auch Angehörige der iranischen Revolutionswächter sein. Mann/Frau ist schon für Harmloseres im Gefängnis gelandet.
Der Hotelbesitzer ist auf der Seite der Mädchen, klar, sonst würden sie sich gar nicht erst ihrer Kutten entledigen, und lässt sich immer so viel Zeit mit dem Öffnen, bis die Mädchen entweder auf ihren Zimmern verschwunden sind oder bis sie schnell in ihre bereitliegenden Mäntel und Kopftücher geschlüpft sind.
Das macht einen eingespielten und unaufgeregten Eindruck, und da die Studentinnen aus Teheran sind und der Hotelier aus Bam, legt das die Vermutung nahe, dass im ganzen Land solche Konstellationen nicht ganz ungewöhnlich sind. Dass es relativ geschützte Bereiche gibt, die gegen Fundamentalisten abgedichtet werden.
Mit leuchtenden Augen breiten die Studentinnen vor uns Zukunftspläne aus, nach denen sie im Westen studieren. Amerika ist Traumziel Nummer eins, und ich bin ein wenig enttäuscht. Deutschland wär doch auch nicht schlecht, oder?

So weit ein paar tiefer gelegene Erinnerungen.

Alleine in meinem Hotelbett vergegenwärtige ich mir meine eigenen Zukunftspläne. Und stelle fest, dass ich gar keine habe, zumindest keine, die über ein paar Monate hinausgehen.
Ich hatte mal welche, als ich mich entschloß Schreiner zu werden. Das war Anfang der 80er, als die Welt noch ganz anders war. Die Bedrohung durch einen Atomkrieg, damit ist man damals halt einfach aufgewachsen. Ich wollte einen Beruf erlernen, dem man überall auf der Welt nachgehen könnte, ohne größere Beschränkungen. Ohne Sprachbarriere und notfalls ohne Strom. Und ich hatte meinen Fromm gelesen, „Die Kunst des Liebens“, in dem auch speziell das Beispiel des Tischlers genannt war, den seine Arbeit nur dann erfüllt, wenn er mit Liebe zu Werke geht.
Könnte man nicht auch hier Arbeit finden? Könnte man im Iran mit Liebe zu Werke gehen und nebenher mit Schreinern Geld verdienen?
Beim Übergang vom Wach- zum Schlafbewusstsein sehe ich mich mit meiner Archäologiestudentin Hand in Hand durch die Altstadt von Bam schlendern. Wir sind im Iran, und Allah sei Dank werde ich einschlafen, bevor es auch nur zu einem Kuss kommt.
Ich hatte meinen Kafka gelesen. 12te Klasse. Der Prozess. Beeindruckender Depri-Scheiß.
Am Morgen wache ich mit Schuldbewusstsein auf.
Der Iran ist klasse wenn man durchfährt. Und, danke, Franz, bestimmt ziemlicher Horror, wenn man hängen bleibt.

Als wir unsere Enfields satteln, singt Herby den alten Bob Marley Hit „I shot the Mullah, but I did not shoot the Muezzin“, und schon sind wir auf dem Weg nach Shiraz, wo’s bestimmt lecker Wein gibt …

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