Abends geht der Hobbyknipser …
… durch die Menschenschar,
Und er find‘ mehr Für als Wider
auf dem Main Bazar.
(Kleine Hymne auf Dämmerung, Zwie- und Kunstlicht)
Wenn man zu den üblichen Öffnungszeiten durch indische Städte spaziert, dann schreit und springt einen ALLES ALLES ALLES an. Der Verkehr, die Menschenmassen, der Lärm, der Dreck, die Hitze, die Händler, die Bettler …
Abends hat man dann ein paar Millimeter mehr Luft zwischen sich und den anstürmenden Sensationen: die Hitze ist etwas zurückgegangen, die Händler und Bettler haben ihre Tagesgeschäfte bereits erledigt, das Licht ist nicht mehr so gleißend und der Blick kann eher im Hier und Jetzt der sichtbar eingeschränkten Umgebung bleiben. Die Luft wird etwas dicker, was den Lärm ein wenig zu dämpfen scheint, und wenn man einmal die Gaußsche Normalverteilung zugrunde legt, dann hat sich ungefähr die Hälfte des Drecks in diejenigen Ecken zurückgezogen, die vom künstlichen Licht nicht mehr so recht erreicht werden.
Ich sag’s einfach mal auf die falschest mögliche Art: es wird gemütlich im Staate Hindustan.
Gemütlich heißt auch, dass man nicht so sehr auffällt, wenn man eine Kamera zwischen sich und das Sehens-werte hält. Remember: wir befinden uns in den vor-digitalen Zeiten, in denen das Fotografieren fast ausschließlich die Angelegenheit von ein paar wenigen Aficionados einerseits und Touristen andererseits war.
Von daheim hab ich mir ein paar hochempfindliche Filme mitgenommen, die ich zuerst nur spärlich einsetze, dann aber hemmungslos, gerade hier in Delhi, kurz vor Ende der Reise.
Was das früher für ein Gefrett war, das mit dem Fotografieren! Man musste genügend (Dia)filme auf die Reise mitnehmen, denn unterwegs gab’s so gut wie keine zu kaufen. Auf die Reise von ’96 hatte ich ca. 150 Filme mitgenommen.
Die muss man dann die ganze Zeit mit sich rumschleppen, und hüten wie einen Augapfel. Hitze und Staub setzen unentwickelten Filmen zu, und man ging ein viel zu hohes Risiko ein, wenn man sie in Indien entwickeln ließ (ich sach nur „falsche Entwicklertemperatur“ und „abgelaufene Chemikalien“). Und dann war das ja auch ein nicht zu unterschätzender Faktor im Bezug auf das Reisebudget. 150 Filme bedeuteten ungefähr 1.500 Mark Ausgaben. Das entsprach fast dem kompletten Budget meiner ersten Indienreise – 1.500 Mark für 6 Monate inkl. Transport, Hotels, Essen, Zigaretten(+), etc. …
Was ich eigentlich sagen will: alles wird irgendwie ein bisschen weicher, wenn es gen Abend geht. Das Licht wird weicher, Indien wird weicher, ich werd weicher.
Und in die so weichgezeichnete Atmosphäre passt doch vorzüglich das folgende kleine Gedicht:
Abends gehn die Liebespaare
Langsam durch das Feld,
Frauen lösen ihre Haare,
Händler zählen Geld,
Bürger lesen bang das Neuste
In dem Abendblatt,
Kinder ballen kleine Fäuste,
Schlafen tief und satt.
Jeder tut das einzig Wahre,
Folgt erhabner Pflicht,
Säugling, Bürger, Liebespaare —
Und ich selber nicht?Doch! Auch meiner Abendtaten,
Deren Sklav‘ ich bin,
Kann der Weltgeist nicht entraten,
Sie auch haben Sinn.
Und so geh ich auf und nieder,
Tanze innerlich, Summe dumme Gassenlieder,
Lobe Gott und mich,
Trinke Wein und phantasiere,
Daß ich Pascha wär,
Fühle Sorgen an der Niere,
Lächle, trinke mehr,
Sage ja zu meinem Herzen
(Morgens geht es nicht),
Spinne aus vergangenen Schmerzen
Spielend ein Gedicht,
Sehe Mond und Sterne kreisen,
Ahne ihren Sinn,
Fühle mich mit ihnen reisen
Einerlei wohin.Hermann Hesse